Im Jahr 2017 stieß ein Deutscher namens Marco auf einen Artikel in einer Berliner Zeitung mit einem Foto eines Professors, den er aus seiner Kindheit kannte. Das erste, was ihm auffiel, waren die Lippen des Mannes. Sie waren dünn, fast nicht vorhanden, eine Eigenschaft, die Marco schon immer abstoßend gefunden hatte. Er war überrascht zu lesen, dass der Professor Helmut Kentler einer der einflussreichsten Sexologen Deutschlands war. Der Artikel beschrieb einen neuen Forschungsbericht, der das sogenannte „Kentler-Experiment“ untersucht hatte. Seit Ende der sechziger Jahre hatte Kentler vernachlässigte Kinder in Pflegefamilien untergebracht, die von Pädophilen geführt wurden. Das Experiment wurde vom Berliner Senat genehmigt und finanziell unterstützt. In einem Bericht an den Senat von 1988 hatte Kentler es als „vollen Erfolg“ bezeichnet.
Marco war in Pflegefamilien aufgewachsen, und sein Pflegevater hatte ihn oft zu Kentler nach Hause gebracht. Jetzt war er vierunddreißig, hatte eine einjährige Tochter, und ihre Mahlzeiten und Nickerchen gliederten seinen Tag. Nachdem er den Artikel gelesen hatte, sagte er: „Ich habe ihn einfach beiseite geschoben. Ich habe nicht emotional reagiert. Ich tat, was ich jeden Tag tue: wirklich nichts. Ich saß vor dem Computer herum.“
Marco sieht aus wie ein Filmstar – er ist braungebrannt, hat einen festen Kiefer, dichtes dunkles Haar und ein langes, symmetrisches Gesicht. Als Erwachsener hat er nur einmal geweint. „Wenn jemand vor meinen Augen sterben würde, würde ich ihm natürlich helfen wollen, aber es würde mich nicht emotional berühren“, sagte er mir. "Ich habe eine Wand, und Emotionen schlagen einfach dagegen." Er lebte mit seiner Freundin, einem Friseur, zusammen, aber sie haben nie über seine Kindheit gesprochen. Er war arbeitslos. Einmal versuchte er, als Postbote zu arbeiten, gab aber nach ein paar Tagen wieder auf, denn jedes Mal, wenn ein Fremder eine Miene machte, die ihn an seinen Pflegevater, einen Ingenieur namens Fritz Henkel, erinnerte, hatte er das Gefühl, er lebe gar nicht. dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen und dass die Farbe aus der Welt verschwunden war. Als er zu sprechen versuchte, fühlte es sich an, als gehöre ihm seine Stimme nicht.
Mehrere Monate nach der Lektüre des Artikels suchte Marco nach der Nummer von Teresa Nentwig, einer jungen Politologin am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen, die den Bericht über Kentler verfasst hatte. Er war neugierig und beschämt zugleich. Als sie ans Telefon ging, identifizierte er sich als "Betroffener". Er erzählte ihr, dass sein Pflegevater jede Woche mit Kentler telefoniert hatte. Auf eine Weise, die Marco nie verstanden hatte, schien Kentler, Psychologe und Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover, tief in seine Erziehung investiert.
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